Wir unterstützen die Proteste, die sich derzeit unter dem Label #unkürzbar formieren. Auch wir sind gegen drohende Kürzungen in Kinder- und Jugendhilfe und in der Familienförderung. Auch wir fordern verlässliche Rahmenbedingungen, wie sie ein vom Paritätischen veröffentlichter Protestbrief dargestellt hat.
Als Berliner Patenschafts- und Mentoringprogramme, die Kindern und Jugendlichen freiwillig engagierte Begleiter:innen an die Seite stellen, kennen wir die prekäre Lage, in der sich viele benachteiligte junge Menschen und ihre Familien befinden. Wenn jetzt zusätzlich wegbricht, was sie stützt, stärkt und fördert, werden viele von ihnen noch weiter zurückgeworfen. Es ist für uns weder verständlich noch akzeptabel, bei diesen Kindern und Jugendlichen zu sparen – bei denen, die nicht nur das Recht haben, gut aufzuwachsen, sondern auch die Aufgabe übernehmen sollen, einmal die Zukunft unserer Stadt mitzugestalten.
Die geplanten Kürzungen würden wohl auch einige Patenschafts- und Mentoringangebote treffen. Ohnehin schon mit unsicheren Rahmenbedingungen kämpfend, wäre das ein weiterer Schlag. Kritisch wäre besonders der Verlust der Fachkräfte, die dringend gehalten werden müssen, sind sie doch persönliche wie fachkundige Ansprechpartner:innen für Freiwillige und Familien und nicht einfach zu finden und zu ersetzen.
Vor allem aber würde dies bedeuten: Weniger Kinder und Jugendliche erhalten die Chance, von Pat:innen und Mentor:innen unterstützt zu werden. Die Forschung belegt inzwischen eindrucksvoll, wie wirksam diese Begleitung durch engagierte außerfamiliäre Bezugspersonen ist: Sie fördert Wohlbefinden, stärkt soziale Teilhabe, verbessert Bildungschancen. Auswirkungen von Armut und sozialer Ungleichheit werden abgemildert. Und da dabei Menschen aus unterschiedlichen Milieus aufeinandertreffen, entsteht zudem gelebter Zusammenhalt.
Mentoring und Patenschaften verdienen deshalb einen festen Platz in der Zukunftsagenda Berlins – nicht auf der Streichliste des Senats.
Berlin, 4. Dezember 2024
Gezeichnet Vorstand des Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften e.V. sowie u.a. diese Mitglieder: Balu und Du e.V., Fibonacci-Mentoringprogramm Flex für besonders begabte Kinder, Känguru - hilft und begleitet (DWBO), kein Abseits e.V., Lupine Mentoring e.V., MORUS 14 e.V., Patenschaften für Kinder psychisch erkrankter Eltern von AMSOC e.V., PaSch - Patenschaften für Schulkinder, Fabrik Osloer Str. e.V., Stützrad gGmbH, Vergiss mich nicht-Patenschaftsprojekt für Kinder aus suchtbelasteten Familien, wellcome Berlin, WIR GESTALTEN e.V., Kiezpatenschaften
Im Tandem weiterkommen – und nicht gegen die Wand fahren
Patenkinder, Mentees, ehrenamtliche Pat*innen und Mentor*innen sowie Vereine demonstrierten am 19. September 2020 für bessere und vor allem verlässlichere Rahmenbedingungen für die außerschulische Förderung nach dem Tandem-Prinzip.
Ob Bildung, Gesundheit oder Integration: Patenschaften und Mentoringbeziehungen sind ein vielseitig wirksames Förderinstrument. Wie eine Studie kürzlich zeigte, sorgen sie etwa für mehr Chancengerechtigkeit bei Schulkarrieren. Deshalb empfehlen Wissenschaftler*innen, diese Methode vermehrt einzusetzen. Auch bei den direkt Beteiligten sind Patenschaften beliebt: bei Kindern, die neue Anregungen bekommen, bei Eltern, die entlastet werden, und bei den Freiwilligen, die im Einsatz für ein Kind ein sinnvolles Engagement finden.
Doch die Projekte, die solche Förderbeziehungen stiften und betreuen (sogenannte 'Tandems', gebildet aus einem Kind/Jugendlichen und einem engagierten Erwachsenen), stehen finanziell auf wackligen „Rädern“. Selbst bewährten Anbietern droht immer wieder das Aus und in den letzten Jahren wurden immer wieder Programme geschlossen. Es gibt keinerlei Modelle längerfristiger Finanzierung. Zudem reichen die Fördermittel oft nicht aus, um genügend Patenschaften stiften und langfristig begleiten zu können.
Darum rief das Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften e.V. am 19. September 2020 zu einer Demonstration auf: Patenkinder, Mentees, Pat*innen und Mentor*innen sowie Hauptamtliche der Organisationen und Fürsprecher*innen fuhren dabei auf 'richtigen' Tandemfahrrädern in Richtung Potsdamer Platz und machen sich für diese wirkungsvolle Methode stark – getreu dem Motto des Netzwerks „zusammen sind wir stärker und lauter“.
„Wir wissen und wollen zeigen, was alles in Eins-zu-Eins-Patenschaften und -Mentoringbeziehungen steckt“, erklärte Florian Amoruso-Stenzel, Vorstand des Netzwerks. „Wer die Vorteile für Bildung, Gesundheit und Integration kennt, weiß, dass Patenschaften ein wirkungsvoller und unumgänglicher Baustein für ein gerechteres Berlin sind. Es muss mehr jungen Menschen als bisher möglich sein, einen Paten oder eine Mentorin zu erhalten. Berlin hat beides: viele Erwachsene, die etwas weiterzugeben haben, und viele junge Menschen in kritischen Lebensumständen. Einmal zusammengebracht, kann der eine den anderen stärken. Es wäre fatal, dieses Potenzial zu verspielen. Doch leider lassen die politischen Rahmenbedingungen das Tandem-Modell gerade gegen die Wand fahren.“
Deshalb fordert das Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften nicht nur mehr Aufmerksamkeit, sondern auch ein bessere Ökosystem für diese vergleichsweise kostengünstige Methode Mentoring und Patenschaften. Dies bedeutet konkret, dass es dringend verlässliche und langfristige Finanzierungsmodelle für Mentoring- und Patenschaftsprogramme geben muss, so das Netzwerk. Denn nur so können die Anbieter fürsorgliche und vertrauensvolle Rahmenbedingungen für die tausenden Berliner Patenschafts- und Mentoringbeziehungen sicherstellen und bürgerschaftliches Engagement für benachteiligte Kinder und Jugendliche als ergänzende Kraft ausbauen und pflegen! Denn Patenschaftsbeziehungen stiften Begegnungen zwischen Menschen aus verschiedenen Lebenswelten, Milieus, Kulturen und Generationen. Begegnungen, von denen unsere Stadt zurzeit mehr denn je profitieren würde.
Seit 2012 gibt es das Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften, einen gemeinnützigen Dach- und Fachverband, der aktuell 38 Mitglieder hat. Gab es 2005 nur eine Handvoll Anbieter, hat sich die Zahl der Träger und Projekte bis heute etwa verzehnfacht.
Aktuell begleiten sie in nahezu allen Bezirken über 2.000 Patenschaften bzw. Mentoring-Beziehungen im Jahr. Dabei fördert ein freiwillig engagierter Erwachsener einen jungen Menschen, mal mehr bei gemeinsamer Freizeitgestaltung, mal mehr in schulischen Angelegenheiten oder Fragen der Ausbildung. Zu den Zielgruppen von Patenschaften bzw. Mentoring gehören häufig Kinder aus so genannten Risikolebenslagen, die sozioökonomisch besonders belastet sind. Zudem haben viele von ihnen einen Migrations- oder Fluchthintergrund, was aufgrund von Sprachbarrieren und nur geringen Kenntnissen des deutsches Bildungssystems, die Lage zusätzlich erschwert. Auf Seiten der Freiwilligen sind die Motivationen vielfältig: Engagierte wollen etwas zurückgeben oder hätten sich früher selbst derartige Unterstützung gewünscht. Manche Freiwillige sind Studierende, andere kinderlose Erwachsene oder haben selbst Migrations- oder Fluchterfahrung.
Wissenschaftliche Befunde und Perspektiven
Gerade erschienen ist eine aufwändige randomisierte Studie u.a. von der Universität Bonn. Geleitet vom renommierten Verhaltensökonomen Armin Falk zeigt sie: Sozial benachteiligte Kinder, die ein Jahr lang von Mentor*innen in ihrer Freizeit begleitet wurden, haben eine um 20 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, später auf das Gymnasium zu kommen, verglichen mit einer Kontrollgruppe von Gleichaltrigen in gleicher Lage ohne Mentor*in. Dabei handelt es sich um eine Langzeitwirkung, denn das Mentoring war ein bis zwei Jahre zuvor erfolgt.
Das Fazit der Forscher*innen Armin Falk, Fabian Kosse und Pia Pinger:
Viele andere Wissenschaftler*innen führen Theorien und verwandte Forschungsergebnisse an, um die immense Relevanz von Patenschaften zu erklären. So sagt etwa der bekannte Schweizer Entwicklungspsychologe Remo Largo in einem Interview:
Die Potsdamer Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel sagt in einem demnächst veröffentlichten Interview:
Über Ergebnisse der Mentoring-Forschung in anderen Ländern berichtet das Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften e.V. regelmäßig in seinem Fachbrief „Telemachos“ hier.
Die Bedeutung der Qualität der Arbeit
Patenschaften und Mentoring-Beziehungen zu stiften und zu begleiten ist eine anspruchsvolle, oft unterschätzte Arbeit. Die Auswahl, Vorbereitung und Zusammenführung der Tandems verlangt ein sorgfältiges und umsichtiges Vorgehen, nicht nur aus Gründen des Kinderschutzes, sondern auch um den Erfolg sicherzustellen. Wie Forschung insbesondere in den USA zeigt, hängt die Zufriedenheit der Beteiligten wie die Wirksamkeit davon ab, welche Qualität das Programm hat, das alle nötigen Schritte organisiert. Bei schlechter Umsetzung können die Beteiligten auch Schaden nehmen.
Die Frage der Finanzierung
Um Patenschaften zu ermöglichen, sind die gemeinnützigen Organisationen in der Regel auf Projektmittel angewiesen. Meistens sind es Stiftungen, die fördern, für einzelne Zielgruppen auch der Senat. Die Gelder werden zeitlich begrenzt vergeben, nicht selten für ein Jahr. Bei Anträgen ist man gehalten, neue Schwerpunkte und/oder Zielgruppen einzubeziehen. Doch Patenschaftsarbeit muss nicht immer neu ausprobiert werden. Der Bedarf ist immer vorhanden und wird es leider bleiben. Daher sollte sie eine Dauereinrichtung sein, so wie Schule oder Sportangebote auch. Zudem wissen wir, dass Mentoring und Patenschaften und Organisationen, die diese vermitteln und begleiten, umso wirkungsvoller werden, je länger sie bestehen.
Hinzu kommt, dass Finanzierungen bislang oft unzureichend ausfallen. Fachliche Einschätzungen gehen von einem Bedarf von ab 1.500 Euro pro Tandem pro Jahr aus, abhängig von der Zielgruppe kann dieser sogar noch höher sein. Die Autor*innen der oben erwähnten Studie werten dies als nicht viel Geld für eine „kosteneffektive“ Maßnahme, wenn man es dem zu erzielenden individuellen wie kollektiven ökonomischen Effekt einer höheren Bildung gegenüberstellt. Hier zu bedenken: Es gibt aktuelle staatliche Förderprogramme für Mentoring und Patenschaften, die nur ein Fünftel dieses Richtwerts bezahlen.
Vielen Vereinen und Trägern gelingt es, Spenden einzuwerben. Allerdings ist dies meist ein kaum vorhersehbares, aufwändiges Geschäft, in der Regel allenfalls geeignet zur ergänzenden Finanzierung.
Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin sagte in einem Interview:
„Das Mentoring muss aus der Projektfinanzierung heraus und in die strukturelle Dauerfinanzierung hinein.“ Deshalb solle man den Ansatz „auf die höchste politische Ebene heben und dort deutlich machen, welche Effekte schon erzielt worden sind“.
Die Aktion wurde aus Mitteln der LOTTO-Stiftung Berlin und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes LV Berlin finanziert.
Danke an das Engagement aller Mitwirkender!